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Titel
Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945


Autor(en)
Locher, Eva
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
45,00€
von
Sabina Roth

Im Rahmen des Forschungsprojekts Die Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert1 untersuchte Eva Locher in ihrer Dissertation den Zeitraum von 1945 bis in die langen 1970er Jahre. Einzelpersonen, Gruppen, Organisationen oder Reformwarengewerbe galten als «lebensreformerisch» oder kurz «reformerisch», «wenn sie den Verzicht auf Alkohol, Tabak und Fleisch ins Zentrum rückten, den Alltag nach Natürlichkeitsprinzipien gestalteten, einen Selbstermächtigungsanspruch in den Dienst einer Gesellschaftsveränderung stellten und als übergeordnetes Ziel Gesundheit propagierten» (S. 33). Im Kern der Bewegung stand ein Set von Praktiken, zu denen bestimmte Ernährungsregeln, naturheilkundliche Verfahren, um Krankheiten zu bewältigen und die Gesundheit zu erhalten, sowie Nacktheit in Spiel und Sport zählten. Diese Praktiken wurden bereits um 1900 mit Kritik an Industrialisierung, Stadt und Medizin zur naturgemässen Reform propagiert. Locher geht den diskursiven Mustern nach, in die sie fünfzig Jahre später eingeschrieben waren, und den Veränderungen, die sie in nationalen Transfers und, eine Generation später, mit der Alternativbewegung erfuhren. Kurzgefasst kommt sie zum Resultat, dass das lebensreformerische Set von Praktiken durch die Zeit dasselbe blieb. Was sich jedoch änderte waren die Wissensordnungen, die ihm zugrunde lagen (S. 352), die gesellschaftlichen Probleme, wofür die reformerische Praxis Lösungen bereithalten sollte sowie die ab den 1970er Jahren einsetzende Erosion der Strukturen (S. 360 f.) durch Protest-Alternativbewegungen.

So oft Reformer:innen einen Apfel rieben, eine Wechseldusche oder ein Sonnenbad im FKK-Areal nahmen, so oft schrieben und lasen sie über ihre Aktivitäten und ihr Denken. Deshalb konnte Locher ein beeindruckendes Quellenkorpus an Publikationen, Materialien aus Vereins- und Personennachlässen verarbeiten, wobei ihr namentlich Reformzeitschriften aus der Schweiz und den Nachbarländern sowie wenige Alternativzeitschriften als «Rückgrat» (S. 40) dienten. Zu Ernährungsfragen ist dies Der Wendepunkt im Leben und im Leiden (1923–1978), in der Ralph Bircher (1899–1990) das Erbe seines Vaters Maximilian Bircher-Benner (1867–1939) weiterführte. Die Naturheilkunde erschloss Die Volksgesundheit (1908–1988) des Schweizerischen Vereins für Volksgesundheit (SVVG) (seit 2002 vitaswiss), dessen Zentralsekretär Paul Häusle von 1954 bis 1966 amtete und zahlreiche Monographien im Verlag veröffentlichte. Materialien zur Freikörperkultur bot Die neue Zeit (1929–2004), in der Werner Zimmermann (1893–1982) als prominente Leitfigur schrieb, sowie die Zeitschrift der Organisation von Naturisten in der Schweiz (ONS). Die Zeitschrift Regeneration (1966–2007) beanspruchte schliesslich als jüngste Gründung alle Bereiche der Lebensreform abzudecken.

Locher konzipiert die Lebensreform als «soziales Milieu» (S. 35) in seinen internen und externen Beziehungen, das sie quellengesättigt und im Forschungsstand kontextuali- siert nachzeichnet. Ihre Darstellung folgt den drei Bereichen «Ernährungsreform», «Naturheilkunde » und «Freikörperkultur», die bereits Wolfgang Krabbe als innere Kreise der Reformbewegung erfasst hatte.2 Den Lesenden eröffnen die drei Bereiche Szenerien von Allianzen und Differenzen unter den Akteur:innen, die sich selbst als moderne, gesellschaftlich integrierte Menschen verstanden, «mit dem Gestus der Überlegenheit» (S. 37) auftraten und sich auf herausragende Persönlichkeiten beriefen. Das reformerische Set aktualisierten sie für die jeweils spezifische «Not der Zeit» (S. 28). So galt ihre Aufmerksamkeit in den Begriffen «Zivilisations-» oder «Managerkrankheit» (S. 148) eugenischen, sozial- und zivilisationskritischen Diskursmustern. Die Kritik an Schulmedizin und Arzneimitteln war mit den therapeutischen Erfolgen der Medizin nach 1945 zurückgegangen, um mit der «Contergan-Affäre» oder der Debatte um die «Krise der Medizin» (S. 158–160) wieder deutlicher zu werden. Ab den 1960er Jahren integrierte die Lebensreform Diskurse der «Selbstentfremdung» und der «Arbeit am Selbst» (S. 168), griff die gesundheitlichen Folgen der Umweltzerstörung durch die Agrarwirtschaft, die Gefahren der Atomkraftwerke und der Nahrungsmittelindustrie auf. Sie zeigte sich politisch an linke ebenso wie rechte Ideologien anschlussfähig. Kooperationen bestanden mit Gruppen für die «biologische Landesverteidigung» (S. 200), des «biologischen Landbaus» (S. 230), mit den «Bärglütli» (S. 250), die ein ökologisches Gemeinschaftsleben in den Bergen praktizierten, sowie mit der pazifistischen und der Anti-AKW-Bewegung (S. 216–230).

Die sich formierenden Umwelt- und Entwicklungsbewegungen griffen die reformerischen
Lehren nur sehr selektiv auf. Die Wanderausstellung umdenken – umschwenken (S. 68–70), die 1975 von Assistierenden und Studierenden der ETH und der Universität Zürich erarbeitet worden war, übernahm beispielsweise das Konzept der sogenannten «Vitalstoffe» von Werner Kollath (1892–1970), um sich jedoch von der Dogmatik solcher Ernährungskonzepte zu distanzieren. Ein Buch fürs alternative fleischlose Kochen in WGs integrierte Rezepte der Vegetarier:innen. Die Autorin Helia Blocher lehnte jedoch den missionarischen und streng asketischen Vegetarismus (S. 88) ab. Die vorherrschende Geschlechterordnung verschwand im reformerischen Set nur langsam. Von wenigen Ausnahmen abgesehen traten Frauen laut Locher noch bis Ende der 1970er Jahre überwiegend mit Themen der Erziehung, Küche und Hausmedizin auf (S. 354). Erst die Ambulatorien der neuen Frauenbewegung eigneten sich Naturheilverfahren ohne Verehrung für ihre einstigen Protagonisten an.

Wer Lochers Arbeit zu spezifischen Fragen konsultieren will, greift mit Vorteil zur Textsuche im E-Book. So lassen sich überraschende, oft kleinräumige Entwicklungen und Persönlichkeiten der Schweizer Nachkriegsjahrzehnte leichter verfolgen. Dies gilt besonders für die reformerischen Praktiken, die in allen drei, sich überschneidenden Teilbereichen omnipräsent sind und oft zitiert oder paraphrasiert werden. Diese Repetitionen in wechselnden Zusammenhängen wirken manchmal ermüdend, doch sie widerspiegeln, wie das reformerische Milieu seine zentralen Diskurs- und Handlungsmuster bekräftigte. Letztlich bestätigen sie Lochers These, dass die Lebensreform wenig strategisch ausgerichtet war und «ihre Schlagkraft im Alltag, in der Lebensgestaltung, im Bewusstsein, in typischen Erfahrungen und im Verhalten ihrer Anhängerinnen und Protagonisten» (S. 353) entfaltet hatte.

Anmerkung:
1 Das Projekt wurde vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt und stand unter der Leitung von Prof. Dr. Damir Skenderovic, Universität Freiburg i. Üe. Siehe auch die Ausstellung «Besser Leben! Lebensreformen bis heute» im Historischen Museum Bern von 2020, und Stefan Rindlisbacher, Lebensreform in der Schweiz (1850–1950). Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen, Bern 2022.
2 Wolfgang Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974.

Zitierweise:
Roth, Sabina: Rezension zu: Locher, Eva: Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt a. M. 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 419-420. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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